Der erfrorene Cadet.

Militär-Humoreske von O. von Briesen
in: „Illustrierte Sonntags-Zeitung (Mayener Volkszeitung)” vom 2.4.1899


Wie so viele seiner Kameraden, litt auch der Leutnant von Mellenburg an dem Erbfehler der Söhne des Mars — das Geld wollte nicht reichen, und Moses, Levi oder Manasse mußten daher häufig mehr oder weniger in die Tiefen der Tasche greifen, um mit dem Benöthigten auszuhelfen. Da nun das beständige Minus sein sehr Unangenehmes hat, suchte sich der Bedrängte den Visiten der Manichäer für einige Zeit wenigstens zu entziehen, indem er sich zur Erziehung und Belehrung der heranwachsenden militärischen Jugend in das Cadetten–Corps meldete.

Von dort aus beabsichtigte er, seine finanziellen Verhältnisse zu regeln, wozu die ziemlich bedeutende Commando–Zulage dienen sollte im Verein mit der Einnahme, die ein thatkräftiger Officier bei der Ertheilung von sogenannten Unterrichtsüberstunden sich verschaffen konnte.

In Folge einer sehr guten Conduite im Dienste erhielt er sein Gesuch bewilligt, so zwar, daß er im nächstfolgenden Frühjahr in der seitdem verlegten Cadetten–Anstalt zu Kulm seine erzieherischen Talente zur Geltung zu bringen hatte. Ueber seine Leistungen und die erzielten Resultate ist hier nicht der Platz zu sprechen — nur so viel sei bemerkt, daß er all' seinen Lectionen den nothwendigen Nachdruck zu geben verstand, seine Jungens aber trotzdem sammt und sonders für ihn durch's Feuer gegangen wären.

Es kamen die Weihnachtsferien heran, und da starken Eisganges halber die Weichselfähre bei Kulm den Dienst eingestellt hatte, so mußten etwa 120 Cadetten über Thorn nach Bromberg transportirt werden, um von dort aus auf verschiedenen Bahn– oder Postlinien in ihre Heimath zu gelangen. Als Führer dieses Commandos, das bis Thorn auf Leiterschlitten, á zehn Köpfe, befördert wurde, war Leutnant von Mellenburg ausersehen.

Ganz früh des Morgens, als eben der sehr kalte Wintertag zu grauen begann, wurden die Urlauber in die mit reichlichem Stroh versehenen Schlitten, in welches sie sich nach Möglichkeit verkrochen, verpackt, da die dünnen Mäntelchen nur verhältnißmäßig geringen Schutz boten. Die Strecke betrug immerhin sechs deutsche Meilen, eine Tour, welche die Ausdauer und Widerstandsfähigkeit der Knaben, von denen viele erst zehn Jahre zählten, schon etwas in Anspruch nahm, nebenbei aber auch dem Führer eine große Verantwortlichkeit auferlegte. Es war übrigens für Jemand, dessen Glieder gegen Erfrieren geschützt sind, eine herrliche Fahrt in den klaren Wintermorgen hinein.

In dem Städtchen Kulmsee, welches etwa auf halbem Wege gelegen ist, wurde ein Halt von fast einer Stunde gemacht, um Cadetten und Pferde abzufüttern, aufzuwärmen resp. ausruhen zu lassen. Da die Gaststube des einzigen Hotels die ganze Zahl der Ankömmlinge nicht faßte, so detachirte Mellenburg den dritten Theil derselben in die in der Nähe befindliche Conditorei, indem er dem ältesten Unterofficier — Tertianer — dieser Abtheilung befahl, darauf zu sehen, daß zur Erwärmung nicht etwa geistige Getränke, sondern nur Kaffee, Thee oder Chocolade bestellt würden. Kurz vor dem Aufbruch begab er sich hinüber in das andere Lokal, um nachzuschauen, ob seinen Anweisungen auch Folge geleistet würde. Leider mußte er bei dieser Inspection die Wahrnehmung machen, daß mehrere Cadetten, gerade jüngere, am verbotenen Apfel genascht und sich dadurch in eine merklich schräge Verfassung versetzt hatten. Die Strafe für diesen Ungehorsam bestand darin, daß die Delinquenten von einigen stämmmigen Kameraden erfaßt und draußen im tiefen Schnee gehörig gebadet wurden, eine Procedur, welche bewirkte, daß die Betreffenden bald wieder völlig klar aus den Augen sahen.

So ging die Fahrt ohne Störung weiter bis ein halbes Stündchen von Thorn, wo die Schlitten–Colonne einen Augenblick am Chausseehause Halt machen mußte, um dort Meilengeld zu entrichten. Während Mellenburg, der auf einem der vordersten Schlitten saß, die Bezahlung regulirte, hörte er von hinten her Lärm und Rufen. Sich schleunigst an das betreffende Gefährt begebend, wurde ihm von dem Aeltesten gemeldet, daß der Cadet von Zeschen trotz aller Versuche, ihn wach zu erhalten, eingeschlafen sei und jetzt nicht ermuntert werden könne, obwohl man ihn mit Schnee abgerieben und alle möglichen Belebungsmittel angewandt habe. Auf den ersten Blick sah der Commandoführer, daß die große Kälte den etwa zwölfjährigen Jungen derart übermannt und schlafsüchtig gemacht habe; ebenso klar wurde es ihm aber auch, wie hier schuelle Hülfe geboten sei, sollte ein schlimmer Ausgang verhütet werden. Demzufolge setzte er sich selbst in den Schlitten des wie leblos Daliegenden und jagte, was die Pferde zu laufen vermochten, voraus nach der Stadt und direct vor das Garnison–Lazareth, wo stets ein Arzt zur Stelle war und auch die beste Unterkunft für den Patienten sich bot.

In kein sehr warmes Zimmer gebracht, konnte der Doctor vorlaufig nur constatiren, daß das Leben noch nicht entflohen war, ob es jedoch zu erhalten sei, lasse sich erst nach einiger Zeit feststellen, da die Kälte dem jugendlichen Körper augenscheinlich sehr stark zugesetzt hätte.

Da Mellenburg mit den übrigen Cadetten alsbald weiter nach Bromberg fahren mußte, einen definitiven Bescheid also nicht abwarten konnte, so bat er den Arzt, ihm eine Depesche in ein bezeichnetes Hotel genannten Ortes zu senden, sobald sich etwas Bestimmtes über den Verlauf der Krankheit berichten lasse. Daß dem Commandoführer dieses traurige Vorkommniß sehr unangenehm sein mußte, liegt auf der Hand, zumal er wußte, daß der „Erfrorene” von seinem Vater vom Bahnhofe abgeholt werden würde.

Das Expediren der Cadetten nach den verschiedenen Himmelsrichtungen war vor sich gegangen und der Perron in Bromberg leerte sich mehr und mehr, als ein älterer Herr von militärischem Aeußeren an den jetzt entlasteten Officier herantrat, sich als Rittergutsbesitzer von Zeschen vorstellte und die Frage vorbrachte, ob sein Sohn nicht mit eingetroffen sei. Bei diesen Worten lief es dem unglücklichen Mellenburg kalt über den Rücken, er mußte aber doch mit der Sprache heraus und erzählte dem sehr ernst dreinschauenden Vater daher in schonender Weise den ganzen Vorfall. „Es kann,” so schloß er, „alles recht günstig verlaufen, wie mir der Arzt bestimmt erklärte; jedenfalls sendet er noch in dieser Nacht ein Telegramm in mein Hotel, wie es mit Ihrem Sohne steht. Denn wenn ich mich auch keiner Schuld zeihen darf, so erscheine ich mir doch fast wie ein Verbrecher und finde keine Ruhe, ehe ich nicht Gewißheit erlangt habe.”

Der alte Papa des Verunglückten war selbstverständlich äußerst besorgt um seinen Sprößling und begab sich demzufolge mit in Mellenburg's Gasthof, da dort ja die erste Nachricht eintreffen mußte. Die beiden Herren nahmen Zimmer neben einander, dachten jedoch nicht an Schlaf, sondern beschlossen, auf zu bleiben, bis der Doctor seinem Versprechen gemäß depeschirt hätte.

Während man nun beisammen saß und sich unterhielt, in einer Stimmung, die trübselig genug war, suchte Einer den Anderen nach Möglichkeit zu trösten. Namentlich bedurfte Mellenburg freundlichen Zuspruchs, obwohl ihm der Vater wiederholt erklärt hatte, daß ihn, den Officier, nie und nimmer auch nur der Schatten eines Vorwurfs treffen könne.

So verstrich den wie auf Nadeln Sitzenden die Zeit unendlich langsam, und auf jedes Geräusch, das sich auf dem Corridor hören ließ, achteten sie mit gespanntester Aufmerksamkeit. Mitternacht war längst vorüber, an Schlaf dachte Niemand — da kam ein schwerer Tritt die Treppe herauf, und im nächsten Augenblick befand sich ein Telegramm in den Händen des Officiers, der es mit Hast entfaltete. Es lautete:„Kranker bessert sich zusehends, in drei Tagen völlig hergestellt!”

Nicht viel hätte gefehlt, so wäre Mellenburg mit einem Hechtsatze über den Tisch voltigirt und dem überglücklichen Vater an den Hals geflogen. Die Freude war beiderseits eine ungemeine, und beruhigt durfte man bald darauf das Bett aufsuchen. Am nächsten Tage fuhren beide gemeinsam nach Thorn, wo der Patient sich so schnell erholte, daß er noch zum heiligen Abende mit nach Hause genommen werden konnte.

Für Mellenburg war übrigens die Rettung des„Erfrorenen” das schönste Weihnachtsgeschenk, denn wäre derselbe nicht mit dem Leben davongekommen, so hätte er sich stets, wenn auch ohne Grund, bittere Vorwürfe machen müssen. Die glückliche Wendung der Dinge sollte sich für den jungen Officier noch zu einem ganz besonderen Ereigniß gestalten. Er fuhr nämlich, herzlich eingeladen, mit auf das Zeschen'sche Gut und verbrachte daselbst die Ferienzeit in eitel Lust und Freude. Maria, die achtzehnjährige Tochter des Hauses, hatte es ihm vom ersten Moment an angethan, und da er wahrnahm, daß seine Neigung Erwiderung fand, so stürmte er ungesäumt auf das Ziel los.

Die Folge seines unternehmenden Schrittes war, daß er seinen bisherigen Zögling, mit dem er nach Neujahr zusummen abreiste, zugleich als zukünftigen Schwager betrachten durfte.

So segnete er hinfort den Frost auf besagtem Transport, ohne den er vermuthlich nicht sein Frauchen kennen gelernt hätte.

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